Zur Zukunft des Entscheidens

Über den Umgang mit Unsicherheit in Organisationen und Unternehmen

Nachbericht

Christian Beinke war bereits 2019 Sprecher auf den Tagen der Utopie. Er ist einer von 30 Gründer:innen, die als Studierende vor rund 15 Jahren „Dark Horse“ gestartet haben, die legendäre Berliner Agentur, die sich mit dem Thema Innovation einen Namen gemacht haben. Es ist, wie die Veranstalter in der Programmvorschau ankündigen, ein Unternehmen ohne Hierarchie, das sich selbst immer wieder als Experimentierfeld mit reflektiertem Scheitern und Erfolg ausprobiert. Christian Beinke blickt zurück auf die letzten Jahre realer Unternehmensutopie und bringt als Gast zum „Tage der Utopie“-Geburtstag den Entscheidungsforscher Niklas Keller mit. Dieser behauptet, dass drei heutzutage weit verbreitete Annahmen falsch seien. Erstens: mehr Informationen führen zu besseren Entscheidungen. Zweitens: Unsicherheit kann mit Komplexität bekämpft werden. Drittens: Vor allem der Intuition ist nicht zu trauen! Keller zeigt unter anderem, wie man bessere Vorhersagen treffen kann als die komplexeste Künstliche Intelligenz. Warum Einfachheit und Transparenz - nicht Komplexität - der Schlüssel zu robusten und widerstandsfähigen Systemen sind, und dass intuitives Entscheiden eine unserer mächtigsten Waffen für einen zuversichtlichen Umgang mit einer unsicheren Zukunft ist.

Christian Beinkes Schwerpunkte liegen in Methoden der Produkt- und Serviceentwicklung und der Transformation von Unternehmensstrukturen für eine erfolgreiche Innovationskultur. Dark Horse wird seit Jahren von „brand eins“ und Statista mit dem Titel einer der besten Unternehmensberatungen Deutschlands ausgezeichnet.

Niklas Keller ist Mitgründer von Simply Rational, dem ersten Verhaltens- und datenwissenschaftlichen Spin-Off des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Dort entwickelt er Methoden zur Unterstützung von Entscheidungen in kritischen Situationen. In Zusammenarbeit mit der Bundeswehr entwickelte er einfache Entscheidungshilfen zur Differenzierung zwischen Zivilpersonen und Selbstmordattentäter:innen an militärischen Checkpoints. Unternehmen unterstützt er, ihre Strukturen, Prozesse und Kulturen so zu gestalten, dass sie auch in Situationen hoher Unsicherheit gute Entscheidungen treffen können.

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Thomas Matt, der für die Arbeiterkammer Vorarlberg, die Kooperationspartner für die Tage der Utopie sind, die beiden Referenten vorstellte. Thomas Matt ist bei der AK zuständig für Fragen zum „wissenden Leben“ und schreibt für die Vorarlberger Tageszeitung VN Kolumnen, die gut lesbar sind. Christian Beinke fokussiere auf freie Denkräume, Niklas Keller, der Designer und Forscher, schaue hinter die Kulissen von „Dark Horse“, erzähle von der Leichtigkeit der Organisation und beleuchte das Feld der Intensivstation, wenn Menschen in Entscheidungssituationen aus der Kurve getragen werden.

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When the music plays …

Vor Beginn des Vortrags gibt es Zukunftsmusik von Peter Madsen, Klavier, und Adrian Mears, Trombone. Das Stück trägt den Titel „So many paths – which one shall I take?“ Mit diesem komponierten Stück spazieren die beiden außergewöhnlichen Musiker in den Götzner Spätnachmittag. Während sie spielen, schaue ich absichtslos an der Bühnenleinwand auf das Bild des Hauptposters dieser „Tage der Utopie“, die fliegenden Fische. Der große gelbe Fisch „schwimmt“ im Zentrum und, wie alle achtzehn insgesamt, von rechts nach links. 20 Jahre seit 2003, dem Beginn dieser Tage der Utopie sind vergangen … sie sind nicht wirklich vergangen, ihr Spirit lebt in diesem Jubiliäumsfestival 20 Jahre und wird in zahlreichen inhaltlichen Verknüpfungen deutlich. Man spaziert mit den intonierten Klangfarben in der leichten Illusion des Afternoon Tea und wird auf einen „Weg ins Freie“ eingeladen, im Spirit der Musikkünstler „Road into the Open“, wie im 1908 erschienen Roman von Arthur Schnitzler. Wir spazieren nicht draußen in einem Götzner Park, sondern vielmehr im historischen und aktuellen Universum der „Tage der Utopie“. Zur Rolle der Musik gibt es einen eigenen Eintrag bei den Rezensionen der einzelnen Veranstaltungen dieser Woche.

The Dark Horse Enterprise

Im Vortragsteil erzählt Christian Beinke von der Story hinter dem „human vision centered enterprise“ des utopischen Unternehmens Dark Horse, beleuchtet, was sich seit 2019 verändert und was er persönlich gelernt hat. Begonnen hat alles 2008, als man angefangen hatte, nutzerzentrierte Visionen zu entwickeln. 40 Leute waren anfänglich im Berliner Büro dabei, „die Agentur für Innovation“ wurde 2010 gegründet und fand rasch einen guten Platz auf dem Markt der Innovationsberatung. Man fokussierte innovative Produkte und entwickelte Service- und Innovationskonzepte und intendierte die Schaffung annähernd perfekter Lebensräume. Doch es gab, wie zu erwarten, Hindernisse, 30 Gründer, die sich freundschaftlich verbunden waren, ohne Hierarchien, für das Angebot war kein kohärenter Markt vorhanden. Man begriff sich als Experimentier-Labor in Richtung Transformation und Innovation. Es ging um das Abwägen persönlicher Bedürfnisse versus jener Fragen, was die Organisation braucht. Die Entscheidungsfindung war partnerschaftlich angelegt, ebenso die Implementierung, die vom Bedürfnis nach Partizipation getragen war. Es ging um das Machen und Entscheiden, Schleifen drehen und um Verzeihung bitten, die operationale Entscheidungsstrategie war auf Übereinstimmung hin orientiert, man wollte sich sicher genug sein und es probieren, wobei dann immer noch Einzelne alles jederzeit stoppen könnten, mit dem Systemeffekt, dass man sich alles zweimal überlegte.

In einem nächsten Abschnitt wird das Thema der Zugehörigkeit diskutiert, d.h. die Frage umgedreht. Die individuelle Entwicklung steht dem Organisationsbedürfnis von Stabilität und Kontinuität gegenüber. In einer Metaphernanalogie mit dem Kloster wirft der Referent die Frage auf, was Klöster anders machen und folgert, die Dark Horse Zugehörigkeit wäre anders zu denken, auch wenn man nicht dort arbeitet. Es braucht das individuelle Commitment, um die Optionen der Veränderungsfähigkeit auszuloten. Was ist heute anders als 2019? Damals wurde mehr und mehr das Thema der Elternzeiten mitbeachtet, Beraterressourcen standen internen Ressourcen gegenüber. Es kristallisierten sich unterschiedliche Visionen heraus, die sich mit der Frage, wohin sich Dark Horse entwickeln soll, beschäftigten.

Der amerikanische Organisationstheoretiker Russel Ackoff

Wie soll es weitergehen? Beinke bringt den amerikanischen Organisationstheoretiker Russel Ackoff in seine Argumentationen. Russel Ackoff war Pionier in den Gebieten Operations Research und Systemdenken. Er entwickelte den soziosystemischen Ansatz in der Organisationstheorie. Außerdem beschäftigte er sich mit der Gestaltung von Unternehmen und mit Managementtheorie, postulierte sog. Interaktives Management, dessen primäre Aufgabe es sei, die Zukunft des Unternehmens zu planen und zu gestalten. Die Unternehmen sollen in einem iterativen Prozess der Interaktiven Planung kontinuierlich gestaltet werden. Dabei ist die Frage nicht, wie das Unternehmen in der Zukunft aussehen soll, sondern wie es sich jetzt an das idealisierte Bild von sich selbst anpassen kann. Die Interaktive Planung erfolgt rückwärts. Zuerst wird ein idealisiertes Bild des Unternehmens entwickelt, so wie es in der Gegenwart aussehen möchte. Im Anschluss wird ein Gestaltungsprozess gestartet, der eine möglichst genaue Annäherung an dieses Bild zum Ziel hat.

Daraus folgert Keller, die Wahlfamilie stellt das Zusammensein über das gemeinsame Wirken; die sog. Autonomy Mastery stellt dies aus dem Verständnis einer human-centered organisation in den Mittelpunkt. Keller bringt weiters Daniel Pink ins argumentative Display. Pink ist ein amerikanischer Wissenschaftsjournalist und ehemaliger Redenschreiber des Präsidentschaftskandidaten Al Gore. Pink beschäftigt sich im Kern seiner Organisationsphilosophie mit der Frage, was uns motiviert. Er sagt, es brauche drei Dinge: Autonomy, Mastery und Purpose, die in Wechselbeziehung zueinander stehen. In „Dark Horse Innovation. Thank Got it’s Monday! Wie wir die Arbeitswelt revolutionieren. Econ Verlag, Berlin, 5. Auflage 2019“ wird dieser Zugang im Sinne eines Future Organisation Playbooks genauer beschrieben und erläutert. „Uns ist längst klar, dass nichts bleibt, wie es war …“Eine, wie ich finde, sehr lesenswerte Publikation, vor allem auch im sprachlichen Selbstverständnis. „In Zeiten des digitalen Wandels setzen die Autorinnen auf kooperative Zusammenarbeit, individuelle Flexibilität und radikale Selbstentfaltung und werden so zum Trendsetter der Arbeit im 21. Jahrhundert.“ (Buchcover)

Niklas Keller vom Max Planck Institut für Bildungsforschung

Im zweiten Teil des Abends „Zur Zukunft des Entscheidens“ spricht Niklas Keller vom Max Planck Institut für Bildungsforschung, Berlin über die menschliche Entscheidungsfindung … er spricht über Daniel Hanemann, den Begründer der Verhaltensökonomie, Nobelpreisträger, dessen „Map of Failability“, Fehlbarkeit, und differenziert Heuristiken, Faustregeln und Bias. Er diskutiert das Problem, dass wir nicht wissen, wie Algorhythmen funktionieren und welche Konsequenzen aus der Dichotomie von Daten Bias und Struktur Bias existieren. Beinke definiert die Rahmenbedingungen für unvorhersagbare Fehler und wie das Problem somit anfällig für Manipulation wird. Die Welt des Aufwands-Leistungs-Kompromisses sei eine dystopische Welt. Er diskutiert – rhetorisch brilliant – Experiment Fragen unter dem Blick „ein glücklicher Zufall“ und bezieht das Publikum in der einzuschätzenden Frage nach der Einwohnerzahl von Städten in den USA und Deutschland ein … und folgert, dass Menschen mit hoher Entscheidungsdynamik sehr gut Entscheidungen treffen können, je weniger Parameter sie haben.

Das Musikstück „Inventions and Intentions“ - the last music piece by Mears – beschließt den interessanten Vortrag. Die darauffolgende Diskussion zu Fragen aus dem Publikum rundet einen gelungenen Abend ab. 

 

Peter Niedermair

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