Trojanows utopische Morgenlesung

Ilija Trojanow liest utopische Texte
aus der Weltliteratur, Robert Bernhard
begleitet am Saxophon

Nachbericht

Texte zum Download

Auf vielfachen Wunsch: Die Texte, die Ilija Trojanow in seinen Morgenlesungen zusammenstellte und rezitierte. Hier zum Download als PDF.

Rückschau

Täglich von 7.30 bis 8.00 Uhr liest Ilija Trojanow in Arbogast utopische Texte aus der Weltliteratur, Robert Bernhard begleitet am Saxophon

Ilija Trojanow, 1965 in Sofia geboren, aufgewachsen in Nairobi, studierte Jura, Ethnologie und Havarie in München. Autor, Übersetzer und Publizist. Lebte von 1998-2003 in Bombay, von 2003-2006 in Kapstadt. Seit 2008 in Wien zuhause. Veröffentlichungen u.a. Die Welt ist groß und Rettung lauert überall, Der Weltensammler 2006, Nach der Flucht 2017, Gebrauchsanweisung fürs Reisen 2018, mit Thomas Macho: Wer hat hier gelebt?, Doppelte Spur 2020, Gedankenspiele über die Neugier 2020. Trojanow erhielt für sein in 31 Sprachen übersetztes Werk zahlreiche Preise, darunter den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2000, den Preis der Leipziger Buchmesse 2006, den Heinrich-Böll-Preis 2017 und den Vilenica International Literary Prize 2018.

Robert Bernhard-Jagg spielt bei den morgendlichen Lesungen von Ilija Trojanow in Arbogast am Saxophon. Er ist seit 1991 Lehrer für Saxophon, Workshops und Musiktheorie; studierte in Feldkirch und Wien. Musikalisches Engagement mit verschiedensten Ensembles unterschiedlichster Stilrichtungen. Akademischer Mentalcoach.

Die morgendlichen Lesungen von Ilija Trojanow, der von Robert Bernhard mit Improvisationen am Saxophon begleitet wird, gehören zu den kostbaren Geschenken des Lebens. Die Stimme Trojanows eröffnet den Morgen, der noch frei ist von allem Tageslärmen und der sozialen Betriebsamkeit der Tage der Utopie. Mit dem Zuhören, wie der Autor die Texte liest, wird nachvollziehbar, weshalb Sprechen und das Pausen Setzen kongenial miteinander verschränkt sind. Das eine lebt von der Welt des anderen, die Pause transformiert die Aura des Klangs und wird dadurch zur Resonanz, diese wiederum zerlegt die Utopie ein Stück weit in hörbare Stille und ermöglicht ein kontemplatives Verstehen, wie im Stück 4′33″ - englisch four minutes, thirty-three seconds oder four thirty-three, deutsch: Vier Minuten dreiunddreißig von John Cage, der die Komposition einmal kommentierte “There's no such thing as silence …“ Robert Bernhard dekliniert die Welt und den Spirit von Arbogast weit hinaus, über Arbogast hinaus, sein Saxophonspiel konstruiert mit den Mitteln seines Spiels „a world in and beyond itself“ (pen). Die hier im Folgenden auszugsweise zitierten Texte hat Ilija Trojanow freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Danke! Ob es die Improvisationen Robert Bernhards auf Tonträger geben wird, erfahren wir, wenn es soweit ist. Nachfolgend Textauszüge von den Lesungen an den fünf Tagen, an denen Ilija Trojanow gelesen hat.

 

Am 1. Tag, Dienstag, 25. April, las Ilija  Trojanow aus den Werken von Mengzi (Mencius) / China, 3. Jhd. v.u.Z.

„Mengzi war überzeugt von einer ursprünglich guten menschlichen Natur, er glaubte an die Gleichheit aller Menschen und an ihr Potential, sich zu vervollkommnen. Er forderte stets die Achtung der Menschenwürde und entwickelte eine konfuzianische Auffassung von Menschenrechten. Die natürlichen Triebe tragen den Keim zum Guten in sich; das ist damit gemeint, wenn die Natur gut genannt wird. Wenn einer Böses tut, so liegt der Fehler nicht in seiner Veranlagung. Das Gefühl des Mitleids ist allen Menschen eigen, das Gefühl der Scham und Abneigung ist allen Menschen eigen, das Gefühl der Achtung und Ehrerbietung ist allen Menschen eigen, das Gefühl der Billigung und Missbilligung ist allen Menschen eigen. Das Gefühl des Mitleids führt zur Liebe, das Gefühl der Scham und Abneigung zur Pflicht, das Gefühl der Achtung und Ehrerbietung zur Schicklichkeit, das Gefühl der Billigung und Missbilligung zur Weisheit. Liebe, Pflicht und Weisheit sind nicht von außen her uns eingetrichtert, sie sind unsere ursprüngliche Beseeltheit.“

 

2. Tag

„Bei den Lakota/Dakota/Nakota beginnen und enden alle Zeremonien mit dem Satz: Metakuye Oyasin (gesprochen: Metake Oyasin )-  All my relations. Alle meine Anverwandten. Das soll daran erinnern, dass wir mit allen Wesen um uns verwandt sind, vom Baum über den Biber bis zum Bison. Wenn wir dies erkennen, können wir voller Dankbarkeit über die Erde wandeln, weil wir Teil von allem sind, die Mineralien des Felsens sind in mir, die Bäume, Biber und Bisons haben einen gemeinsamen Ursprung mit uns Menschen. Diese Verwandtschaft sollte unser Handeln bestimmen.“

„Die Maori haben einen Satz, der diese Haltung auf den Punkt bringt: Ko au te awa ko te auwa ko au - I am the River and the River is me. Der Fluß ist ein lebendes Wesen: Te Awa Tupua. Wie der verstorbene Niko Tangaroa, ein Ältester der Maori, erklärte, stehen die Menschen in einer wechselseitigen Beziehung zum Fluss: „Der Fluss, das Land und seine Bewohner sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn das eine betroffen ist, so ist auch das andere betroffen. Der Fluss ist der Herzschlag, der Puls unseres Volkes... . . Wenn [der Fluss] stirbt, sterben wir als Volk. Ka mate te Awa, ka mate tatou te Iwi." Diese Beziehung ist ein Konzept, das von den Nicht-Maori nicht leicht verstanden werden kann, weil sein Wert außerhalb der gewinnbringenden Vorstellungen von Eigentum und Profit liegt.“ 

 

3. Tag

„Nur andere Menschen können dich Mensch nennen. Aus den Ashoka-Edikten, Indien. Erklärung: Stelen, die der König Ashoka nach seiner Konvertierung zum Buddhismus in vielen Teilen Indiens aufstellen ließ. Kein Lebewesen töten, kein Tieropfer darbringen. Manche Tiere stehen unter Schutz: Papageien, wilde Gänse und Enten, Fledermäuse, Ameisenköniginnen, Schildkröten, Fische, Stachelschweine, Eichhörnchen, Rehe, Rinder, wilde und Haus-Tauben, alle vierfüßigen Tiere, die weder nützlich noch essbar sind. Die Ziegen, Schafe und Säue, die Junge haben oder Jungen Milch geben, sind geschützt, wie auch die Jungen, wenn sie jünger als sechs Monate sind. Hähne dürfen nicht kastriert werden, Unterholz, in dem Tiere sich verbergen, darf nicht verbrannt werden und Wälder dürfen weder ohne Grund, noch um Lebewesen zu töten abgebrannt werden. Ein Tier darf nicht an ein anderes verfüttert werden.

Überall (…) haben wir Vorkehrungen für zwei Arten der medizinischen Behandlung getroffen: die medizinische Versorgung von Menschen und die medizinische Versorgung von Tieren. Wo medizinische Kräuter zur Behandlung von Menschen oder Tieren nicht vorhanden waren, haben wir sie eingeführt und pflanzen lassen.“

 

4. Tag

„Benötige ich eine Sonne für mich allein, eine Atmosphäre für mich allein? Habe ich das Recht, mich zu ihrem alleinigen Eigentümer zu machen und die anderem ihrer zu berauben, sogar wenn ich sie nicht brauche, um meine Bedürfnisse zu befriedigen? Und habe ich das Recht, anderen zuzumessen, was sie von diesen Dingen bekommen, wie viel Sonnenlicht, wie viel Luft oder Wasser, welchen Teil des Waldes, zum Spazierengehen, wie viele Zimmer, zum Bewohnen? Joseph Déjacque, französischer Revolutionär, 19. Jahrhundert 

Denis Diderot, Nachtrag zu „Bougainvilles Reise“. Der fiktive Häuptling auf einer Südseeinsel sagt zum französischen Reisenden: Treibe das, was du die Annehmlichkeiten des Leben nennst, soweit du willst; aber erlaube verständigen Wesen, haltzumachen, wenn sie bei Fortsetzung ihrer mühsamen Anstrengungen nur eingebildete Güter erlangen können. Wenn du uns überredest, die enge Grenze des Bedürfnisses zu überschreiten, wann werden wir dann aufhören zu arbeiten? Wann werden wir genießen? Wir haben die Summe unserer jährlichen und täglichen Mühen möglichst klein gehalten, weil unserer Meinung nach nichts der Ruhe vorzuziehen ist. Kehre in dein Land zurück, rege und plage dich dort, soviel du willst; aber laß uns in Ruhe. Rede uns weder deine künstlichen Bedürfnisse noch deine trügerischen Tugenden ein.“

 

5. Tag

Aus der Charta der Mandé, Westafrika, 13. Jahrhundert. Mündlich überliefert bis ins 19. Jahrhundert, weswegen es verschiedene Versionen gibt

Jedes Leben ist ein Leben.
Es stimmt, ein Geschöpf erblickt
vor einem anderen das Licht der Welt,
aber kein Geschöpf ist älter und ehrwürdiger als ein anderes,
und kein Geschöpf ist besser als ein anderes. 

Da jedes Leben ein Leben ist,
Verlangt jedes Unrecht, das dem Leben zugefügt wird,
nach Wiedergutmachung.
Niemand soll seine Nächsten angreifen,
niemand soll seine Nächsten schädigen,
niemand soll seine Nächsten quälen.

Hunger ist nicht gut,
Sklaverei ist ebenso schlecht;
Es gibt kein größeres Unglück in der Welt.
In dieser niederen Welt.
Solange wir den Köcher und den Bogen besitzen,
wird der Hunger niemanden töten,
und sollte es auch zu einer Dürre kommen.

Der Krieg wird nie wieder ein Dorf zerstören,
Um Sklaven zu entführen;
Niemand wird seinem Mitmenschen eine Kandare anlegen,
Um ihn zu verkaufen;
Auch wird niemand mehr geschlagen,
Geschweige denn zu Tode gebracht,
weil er der Sohn eines Sklaven ist. 

Der Mensch aus Knochen und Fleisch,
aus Gehirn und Muskeln, aus Haut und Haaren,
ernährt sich von Speisen und Getränken;
aber seine Seele lebt von drei Dingen:
zu sehen, was sie sehen will,
zu sagen, was sie sagen will,
zu tun, was sie tun will.

Wenn der Seele eines dieser Dinge fehlt,
wird sie leiden und verkümmern.
Deswegen verkünden die Jäger:
Jeder Mensch bestimmt über seine Person,
Jeder Mensch ist frei in seinen Handlungen,
Jeder Mensch verfügt über die Früchte seiner Arbeit.
Unter Beachtung der Gebote seines Landes.
So lautet der Eid des Manden
An die Ohren der ganzen Welt gerichtet.

 

Peter Niedermair

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