Von der Macht der Vorstellungskraft
20 Jahre Tage der Utopie
Jubiläums-Matinee
Festvortrag von Philipp Blom
Nachbericht
Eine Rede zum Geburtstag und ein Austausch mit den Gründern und Wegbegleiter:innen. Moderation Raphaela Stefandl
Philipp Blom, der Philosoph, ist vielen Ö1 Hörer:innen von seiner Diskussionssendung „Punkt eins“ als Moderator bekannt. Vertraut bekannt ist Blom auch als Autor, dessen Bücher in 16 Sprachen übersetzt worden sind. In Hamburg geboren, lebt er heute in Wien. Er hat Philosophie, Judaistik und moderne Geschichte in Wien und Oxford studiert und in London als Journalist und Übersetzer gearbeitet. Philipp Blom erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. das Stipendium am Getty Research Institute in Los Angeles oder den NDR Kultur Sachbuchpreis. Zuletzt erschienen u. a. „Die Welt aus den Angeln“, „Was auf dem Spiel steht“ und „Die Unterwerfung“.
Zukunftsmusik
Für jeden Abend vergeben die Tage der Utopie eine Auftragskomposition an Musikschaffende, die den jeweiligen Vortrag einleiten und am Ende darauf improvisierend antworten. Alle Beiträge sind in einer laufenden Buch- und CD-Reihe dokumentiert. 2023 – zum 20-jährigen Jubiläums Festival spielt, bereits zum 4. Mal innert der 20 Jahre, Peter Madsen. Er brachte zum Geburtstag den australischen Multi-Instrumentalisten Adrian Mears mit.
Vor Beginn der Festrede von Philip Blom wurde ein kleine, sehr sehens- und hörenswerte Filmdoku von Wolfgang Mörth anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums gezeigt. Mörth hatte eine repräsentative Gruppe von Menschen gebeten, vor der Kamera von den Erfahrungen zu erzählen, die sie im Kontakt mit den Tagen der Utopie gesammelt haben. Was haben die Tage der Utopie in diesem Land bewirkt? Oder: Welchen Einfluss hatte das, was die Besucher:innen dort erfahren haben, auf das eigeneLeben? Weiters: Was würden sich Besucher:innen für die Zukunft der Tage der Utopie wünschen? Die Antworten sind überzeugte und überzeugende Statements für das bisherige Programm und ein Plädoyer für die Fortsetzung. „Denn die Formulierung einer Utopie ist zwar Voraussetzung dafür, den Blick für ein Problem zu schärfen, aber noch wichtiger ist es, tatkräftig für ihre Umsetzung zu sorgen. Und zwar, weil die Zeit drängt.“ … schreiben die Veranstalter.
Martin Hebenstreit, Obmann des Vereins „Tage der Utopie“, begrüßte die Gäste im Saal von AmBach Götzis, der bis auf den letzten Platz besetzt war. In der Begrüßungsrunde zu Beginn wies Josef Kittinger, mit Hans Joachim Gögl, Begründer dieser Tage der Utopie, auf das Selbstverständnis hin und betonte die Kraft der Visionen, und problematisierte die längst gültige Sprachregelung, weg von der Reparaturhaltung der Gesellschaft gegenüber. Es brauche Utopien, es brauche Visionen, das konstante kritische Interesse an der Vergemeinschaftung. Die Tage der Utopie schöpften, betonte er, haben auf diesem 20-jährigen Weg zahlreiche Kooperationspartner mit denen eine Reihe wertvoller gesellschaftsrelevanter Prozesse entstanden sind. Frau Landesstatthalterin Barbara Schöbi-Fink zeigte auf, in wie viele Ressorts das Thema hineinspiele, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und unterstrich die Bedeutung der Utopien, weil sie es auch ermöglichten, über die Perioden hinaus zu schauen. Die Tage der Utopie als Format seien sehr politisch und beruhten auf einem großen breiten Konsens. Das Land, auf die Rückfrage der Moderatorin, Raphaela Stefandl, ob das Land nicht Angst vor Utopisten habe, sei froh, dass es diese kritischen Geister gebe. Bürgermeister Loacker freute sich über die Initiative des Bildungshauses St. Arbogast, die mittlerweile auch wegen der gestiegenen Zahl der Besucher:innen in Bühne AmBach sich ausgebreitet hätten. Götzis, mit seinen 12T Einwohner:innen sei stolz auf dieses Format und das Ambiente mit dieser Infrastruktur. Herr Pfanner vom Netzwerk der Tage der Utopie checkt seit Jahren die Wirkungsbereiche der Ideen und Vorstellungen, die hier präsentiert worden sind und zeichnete das Sternenbild, inspirierende Zukunftsbilder mit stark visionärem Charakter und erörtert die Kernfrage, was Leben lebenswert mache. Die Hoffnung und das positive Denken, das alles müsse im Kleinen beginnen um wachsen zu können. Als seine persönliche Utopie bezeichnete Bürgermeister Loacker die Ideen der Toleranz im Umgang miteinander. Dies bedeute auch Akzeptanz als Mittel der Wertschöpfung dieser Tage der Utopie.
Die Pragmatik der Verhältnisse und die Rolle der Sprache
Von wegen „die Gegenwart von der Zukunft her denken“. Die Zeichen der Zeit geben ausreichend Anlass zu Sorge. Allerdings operieren Lösungsszenarien, die sich auf die vergangenen Erfahrungen berufen, in einem circulus vitiosus. Solange man sich nämlich in den Problem- und Konfliktfeldern orientiert, spricht man in den Maschinen- und Reparatursprachen, man bewegt sich im Denken wie im Sprechen in der Semantik der Reparatur. Appreciative Inquiry geht davon aus, dass Menschen und Systeme sich in die Richtung bewegen, in die sie schauen; und die Fragen, die wir stellen, entscheiden darüber, was wir finden. Fragen steuern. Die Tage der Utopie sind in ihrem Selbstverständnis kein politisches Diskursallheilmittel, man müsse selbstverständlich die Problematiken ansprechen, betont H.-J. Gögl, Utopie im Sinne der Veranstalter sei ein Instrumentarium, um aus dem klassischen, bewährten Strategiemodus auszusteigen und das Feld zu wechseln, ganz an die Wurzel gehend, disruptiv, und überlegen, was denn die bestmögliche Lösung sein könnte, ohne sich auf bestehende Strategien abzustützen und zu reparieren.
20 Jahre: Zum Wandel des Utopiebegriffs
In der Zeit seit Beginn der Tage der Utopie 2003 hat sich der Utopiebegriff fortlaufend verändert und mit neuen Konnotationen aufgefüllt. 2003 hatte man mit einer anderen Vorstellung und inhaltlichen Füllung begonnen; man startete mit einem gewissen Enthusiasmus und einem historischen Vortrag über Utopien; der Begriff war damals ungebrochen positiv besetzt, Prof. Waibel aus Innsbruck sprach fast ausschließlich über Utopiekritik im Popper’schen Sinn und wies auf den Zusammenhang von autoritären diktatorischen Regimen und Utopien hin. Für die BesucherInnen war es anfänglich ein Stück weit irritierend, dass so wenig positive Bewertung dieser Geschichte gegenüber entgegengebracht worden sei, während am anderen Pol die Politik einen starken Pragmatismus zelebrierte. Für die Politik war das Utopische das Nichtpraktikable, eine Zeitverschwendung mit Träumen, ein überzogener Anspruch an die Wirklichkeit. Inzwischen jedoch hat sich einiges gewandelt. Es gibt in der Wissenschaft eine Kritik der Utopiekritik, und es gibt die Unterscheidung von der Idee und der Verwirklichung der Idee. Vor allem aufgrund des extremen technologischen Wandels merkt man, dass es lohnender sein kann, offener auf einen Diskurs zuzugehen. Die Auseinandersetzung mit der Utopie war in Arbogast immer ein Werkzeug des Entwerfens, auch selbstironisch, spielerisch, wo der Weg beim Gehen entsteht, wo also der Prozess an sich im Zentrum steht, beobachtend, besprechend, gemeinschaftsorientiert, kein perfekter Bauplan also (H.-J. Gögl), keine geschlossene Gesellschaft, sondern eine radikale Offenheit, die sich auch auf der semantischen Ebene in den Titeln der Vorträge spiegelt. „Greifen wir nach den ‚Sternen‘“, den europäischen, mit Verena Ringler, oder „Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung“, von Hartmut Rosa, eine Analyse unser gesellschaftlichen Befindlichkeit.
Peter Niedermair, Montag, 24.4.2023

„Von der Macht der Vorstellungskraft“ Festvortrag von Philipp Blom
Das Jubiläumsfestival für eine gute Zukunft 2023 vom 23. bis 29. April in Götzis Ambach und Arbogast wurde mit einem hochinteressanten Festvortrag des in Wien lebenden Philosophen, Autors und Kritikers Philipp Blom eröffnet. Sein Vortrag positioniert inhaltlich diese bevorstehende Woche voller Vorträge, Workshops und Gespräche über kreative, innovative und thematisch vertiefende Dialoge.
Vergemeinschaftung von Zuversicht
In einem Gespräch, das ich mit Hans-Joachim Gögl und Josef Kittinger zum Jubiläumsprogramm „20 Jahre Tage der Utopie – Vergemeinschaftung von Zuversicht“ für die „Kultur – Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft“, hatte, das im Aprilheft 2023 abgedruckt ist, spricht Josef Kittinger von der aktuellen Versuchung, in den Problemen zu versinken. „Durch die Fülle der Krisen, die über Medien auf uns eindringen, kann es passieren, dass man nur mehr Probleme sieht und sich den Lösungsbildern nicht mehr zuwendet.“ Mit Blick auf die Ukraine Bilder: „Man sieht primär die Bilder der Verteidigung der Ukraine, die Notwendigkeit, sich zu wehren … aber: wo gibt es Visionen, Lösungsbilder, für die Zeit nach dem Krieg? Wie könnte eine kooperative Ordnung, keine imperiale, in Europa und weltweit aussehen? Jetzt prallen die Mächte im Kampf aufeinander. Über die Medien gibt es viel Infotainment und auch Fake News. Die Gefahr ist, dass man hier atmosphärisch gesellschaftlich mitschwimmt und versäumt, sich einem Lösungsbild zuzuwenden, weil unsere Energie der Aufmerksamkeit folgt. Die Krise paralysiert uns.“ Diesem Szenario stellt Josef Kittinger die „Macht der Vorstellungskraft“ (Titel des Philipp Blom-Vortrags) gegenüber: „Wenn wir uns einer wünschenswerten Zukunft zuwenden, werden lebendige Energien freigesetzt, individuell wie auch gesellschaftlich-gemeinschaftlich. Und genau das ist ja auch die Idee der Tage der Utopie.“
„Wir glauben an den Verbrennungsmotor“
Blom beginnt seinen Vortrag einmoderierend mit einem lakonisch ausgesprochenen Hinweis darauf, dass wir uns in Österreich „offensichtlich nicht bewegen wollen“, weil „wir keine Zukunft haben“, eben weil – die Regierung auf die Klimakatastrophe mit dem Glaubensbekenntnis an den Verbrennungsmotor glänzt. Vgl. Bundeskanzler Nehammer in einer jüngst gehaltenen Rede. Was für eine „schöne Utopie“ … Die Zeiten, so könnte man sich einreden, seien ja noch nie so gut gewesen wie jetzt, hier und heute, noch nie hätte man so gut gelebt, in so viel Freiheit und Emanzipation. Somit, könnte man konstatieren, wir leben in der Utopie, das sei doch enttäuschend, ist es doch eigentlich die Karikatur der Utopie. Der Preis ist hoch, viel zu hoch: u.a. ablesbar an der zerstörten Natur, an der Armut. Diese Utopie kann es also nicht sein. Und, sichtbar werde auch: die großen Ideen der Geschichte haben alle versagt. Die zuvorderst erste Frage wäre demnach, warum Utopien scheitern. Wessen Werte, Ideale, welche Idee vom guten Leben sind es, die uns hier davonschwimmen? Zudem: Die Dystopien, die anderen Annahmen, werden meist nicht thematisiert. Historisch gesehen reichen die ersten Utopien weit zurück und thematisieren die Ankunft des Messias im Judentum und Christentum. In der Spätantike. Und handeln von der Erlösung. Das eigentliche Problem demnach ist der Mensch, der erlöst werden soll. Sind wir utopierbar?
Die Aufklärung
Die zweite große Periode ist die Aufklärung, in der kernthematisch die Frage artikuliert und diskutiert wird, wie die ideale Gesellschaft funktioniert. In der Politik werden christlich-religiöse Ideen mit den Ideen der Aufklärung verknüpft. Spinoza und Moses Mendelssohn, deutscher Philosoph der Aufklärung. Er gilt als einer der wichtigsten Wegbereiter der Haskala. Doch auch die aufgeklärten Utopien weisen Unzulänglichkeiten auf, die Idee ist geprägt von der gelehrten Herrschaft, bei der die wissenschaftliche Beherrschung im Zentrum steht. Die Leitideen drehen sich um die Unterwerfung der Natur und des eigenen Selbst. Es zeigen sich Reaktionen auf Extremsituation, wie derzeit die Klimakrise, die es historisch bereits auch im alten Ägypten, in der Antike der Brotkorb der Welt, gab. Heute sind wir mit hochkomplexen globalen Systemen konfrontiert und wir bemerken, wie blitzschnell Abläufe ins Stocken geraten können, allein wenn ein Frachtschiff ob seiner Größe im Suezkanal stecken bleibt. Heute verspricht die Religion sich als Utopie und gibt thematisiert die Antwort als die Wahrheit im Jenseits. Wie unaufgeklärt dieser historische Abschnitt tatsächlich war, lässt sich an der Misere zu Mitte und Ende des 16. Jahrhunderts ablesen, als unter dem Schwur von Gebeten viele Hexen verbrannt wurden. Erst später haben wir historisch angefangen, empirisch zu denken, haben den Handel intensiviert, haben gelernt, die Welt anderes zu sehen, mit Hilfe des Buchdrucks sind wir sichtbar in die neuen Weltsichten eingetaucht. Die Bekämpfung der Ungleichheit der Gesellschaft wurde aufgenommen. Mit Diderot und der Enzyklopädie kamen die anderen Utopien in die Welt, kam Descartes.
Wie können Utopien gelingen?
Im „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil wird eine Grundidee thematisiert. Wir können nicht ohne Fantasie leben und wenden uns deshalb in einer neuen Perspektive einer Geschichte zu, die als bedeutend erkannt wird. Nämlich den Visionen, die in der Kunst angelegt sind. Worauf können wir also hoffen? Das gute Leben ist bereits da. Mit der Kunst beginnen wir jedoch neu zu denken, wir entwickeln Bilder vom Denken in Verstricktheit. Dabei wird uns bewusst, wie sehr wir in der kritischen Zone des Lebens zu Hause sind. Utopie ist ein NichtOrt, der mit einer Revolte gegen die Zerstörung beginnt.
Peter Niedermair, 24. April 2023. 22.00 Uhr